Terra Nova

Cape Evans, Tag 1. Es ist der erste November im Jahre 1911.

Der Moment ist gekommen. Wir sind in Abteilungen auf Schlitten und Skiern Richtung Süden aufgebrochen.

Ich verwahre dieses Logbuch in Öltücher gewickelt – es kommt mir vor wie eine Rettungsleine zu Ländern, die ich einst kannte.

Wer weiß, vielleicht wird es eines Tages von Gelehrten gelesen, obgleich es nicht der Applaus ist, an dem mir gelegen ist.

Amundsen, endlich! Warum all die Geheimniskrämerei? Warum sollte ich Sie aufhalten, und wie?

Ich habe dem Schicksal schon zuvor in die Augen gesehen, ich habe niemals Furcht oder Reue gezeigt und werde nicht jetzt damit anfangen.

Der Pol ist so viel mehr als ein Punkt auf der Landkarte, wo sich die Meridiane verflechten.

Wir bestreiten höflich, lügen: „Es ist Wissenschaft!“, und doch wissen wir beide, dass es ein Wettlauf ist.

Tag 32. Das Wetter wird schlechter. Alle sind durchweicht und beinahe blind.

Die Motorschlitten funktionieren nicht in der Kälte – wir haben sie abgeladen und zurückgelassen.

Zwei Ponys kränkelten und musste erschossen werden – sie haben sich völlig in diesem Schnee verausgabt.

Sobald wir den Beardmore-Gletscher bestiegen haben, wird es sicherlich aufklaren. Auf der Polebene werden wir das Tempo erhöhen.

Tag 54. Es ist Weihnachten. Wir haben uns gute 18 Meilen durch den Sturm gekämpft.

Aßen Pony-Gulasch, Weihnachtspudding und Plätzchen zu Abend, das Zelt war überfüllt, aber warm.

Wir sangen ein paar Weihnachtslieder, dann lauschten wir schweigend, während draußen der Wind seine Antwort sang.

Die Welt schien so riesig – wir suchten Zuflucht im Lachen, aber tiefer im Innern klagte die Leere.

Terra, Terra Nova – letzter weißer Rand auf der Karte und ein unausgesprochenes Versprechen.

Terra, Terra Nova – immer gerade einen Schritt voraus. . .

Tag 65. 88 Grad südlicher Breite. Ich habe nach Stärke und Esprit gewählt:

Fünf Männer für den Pol - Laurence Oates, Edward Wilson, ‚Taff’ Evans, H. Bowers – und ich.

Die anderen kehren um – ihre Unterstützungsaufgaben sind beendet. Sie grübeln und sind schwer zu trösten.

Teddy hat mir die Taschentuchfahne seiner Frau mitgegeben – ich habe versprochen, dass sie auf dem Pol wehen wird.

Tag 74. Gott, ich bin müde! Meine Zehen fühlen sich wie Marmor an und beginnen, schwarz zu werden.

Wir haben die Schlitten nun aus eigener Kraft 400 Meilen weit gezogen, und ich spüre jeden Schritt in meinem Rücken.

Dennoch sind wir heiter und vergnügt – wir sind so nah an unserm Ziel! Nur ein Tag in diesem Tempo könnte ausreichen.

Unsere Herzen fliegen voraus – wir können kaum Schritt halten. Irgendetwas ist vor uns auf dem Eis. . .

Amundsen, sagen Sie, kümmert es Sie, wer ich bin? Versetzt es Ihnen einen Stich, wenn mein Name erwähnt wird?

Meine Männer berichten mir von Ihrer Gelassenheit und Gutmütigkeit. Mein Neid erfüllt mich mit Scham.

Und doch war ich es, der Neuland betreten hat, Ihr unverblümtes Telegramm war nichts als eine Herausforderung.

Trotz aller Rückschläge und Entbehrungen haben wir nicht aufgegeben – hören Sie mich? Wir sind fast da!

Tag 75. Er war der Erste. Wir sind geschlagen. Ein ermüdender Rückweg liegt vor uns.

Amundsen hat uns einige Vorräte zurückgelassen – in guter Absicht, aber es wirkt wie Spott.

Wir sind entmutigt. Großer Gott! Was eine trostlose Einöde aus harten Kanten und unbarmherzigem Licht.

Kein Preis für unsere Mühen und keine Dämmerung, um den Affront jener Fahne im Schnee zu verhüllen.

Terra, Terra Nova – graue Horizonte umschließen uns wie eine erstickende Umarmung,

Terra, Terra Nova – wohin gehen wir von hier aus?

Tag 105. Das Öl ist knapp – es scheint, dass unsere Dosen undicht waren.

Minus 40 Grad. Jeder 200-Pfund-Schlitten beginnt zu blockieren und am Boden festzufrieren.

Evans ist gestürzt – er ist verwirrt und schwach. Ich befürchte, er wird diese Geschwindigkeit nicht durchstehen.

Schritt für Schritt gehen wir in eine dunstige, helle Leere, und die Winde verwehen jede Fußspur.

Tag 133 – oder 134? Ich habe vor ein paar Seiten die Zählung verloren.

Laurence Oates wusste, dass uns seine Krankheit aufhielt. Heute Abend ist er in den Schnee gegangen.

Als er die Zelttür öffnete und sagte: „Ich könnte eine Weile fort sein“, waren wir von dem Mut, den er zeigte, ergriffen.

Es lag Größe und Stärke in jener stillen, letzten Entscheidung, auch wenn sie gegen den Kodex verstieß.

Amundsen, wie sehr ich darum ringe, Ihnen klare Himmel und eine schnelle, sichere Rückkehr zu wünschen!

Überlebender und Sieger. Ich lächele während ich zusehe, wie unser letztes Öl schwächlich aufflackert und verbrennt.

Und dennoch blicken mich jeden Tag in meinem Spiegel Ihre Augen an, so ähnlich in ihrem Ehrgeiz und Stolz.

In den Büchern werde ich vielleicht noch eine Weile weiterleben als Ihr Schatten – der Kapitän, der sich bemühte.

Tag 142. England, bitte versorge undsere Witwen, wenn wir fort sind.

Wilson und Bowers haben sich seit Stunden nicht gerührt. Ich habe kaum die Kraft, weiterzuschreiben.

Höchstens 12 Meilen bis zum Depot, und doch – eine halbe Welt und ein Leben weit entfernt.

Beinahe eine Woche lang habe ich nun in diesem Schneesturm gelegen - - - jeden Tag rücke ich näher. . .

Amundsen - - - Roald, irgendwie warst Du hier an meiner Seite in diesen gefrorenen, verlorenen Landen -

beinahe ein Freund inmitten einer schrecklichen Schönheit, die Niemand außer uns beiden begreift.

Es wurde getan. In Anbetracht dieser Leistung erscheint es eitel, wer der Erste war, ob wir zurückkamen oder nicht.

Vielen Dank jedenfalls, dass Du bis zum Schluss geblieben bist. Robert Falcon Scott.

Terra, Terra Nova, über die Grate und Spalten, wenn die Nordwinde verebbt sind,

Terra, Terra Nova – nur ein Schritt zur Seite. . .

(Text: 10. 04. 2008, Musik: 22. 08. 2012)

In Memoriam Robert Falcon Scott

Englischer Originaltext

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