Wenn sich der Tag zur Ruhe legt
die Dämmerung herniedersinkt
dann warten Berg und Wald darauf,
daß er das Nachtlied für sie singt.
Ob Mensch, ob Bär, ob Wicht, ob Gnom -
sein Sang kennt keinen Unterschied,
ob edel, böse, häßlich, schön -
für jeden gleich erklingt das Lied.
Der alte Wolf kommt jede Nacht.
Vom Sternenhimmel überstrahlt
singt er, wie er es immer tat,
von seinem Felsen überm Wald.
Und lange schon, bevor er war,
erklang das Lied nach jedem Tag -
wird ewig jede Nacht erklingen
wer dann auch immer lauschen mag.
Er singt von jungen Frühlingstagen,
warmen Schauern, Blütenregen,
Sonne, Freude, Kindheit, Nähe,
wiederauferstandnem Leben.
Er singt von klaren Sommernächten,
alten Sagen, Lagerfeuern,
Vögeln, Freiheit, Mittagshitze,
Entdeckung, Jugend, Abenteuern.
Er singt von Herbst und erster Kälte
Nebel, Reife, bunten Bäumen,
Alter, Abschied, kahlen Zweigen,
schließlich auch von Winterträumen.
Singt fort von Frost, von Schnee und Tod,
doch auch, daß unter allem Eis
ein neuer Frühling wartend schläft
und singend schließt er so den Kreis.
Das Wolfslied, das auch ich nun singe
wird nicht von der Zeit verweht,
bleibt ewig wie der Sternenhimmel,
weil seine Wahrheit nie vergeht.
Es wandert mit dem Kreis des Lebens,
zieht hindurch durch jede Zeit,
als stetes Erbe mitgegeben -
der Gesang der Ewigkeit.
Und wird es in der Zeit versinken,
geht einst verloren Text und Wort -
in jedem Tod, in jedem Leben
Klingt es weiter leise fort.
So steht der Wolf, und singt sein Lied,
was immer auch der Tag gebracht.
Es lauschen träumend Berg und Wald
bis es verklungen in der Nacht.
(1995. Inspiriert von Astrid Lindgrens 'Ronja Räubertochter'.)