Lots Frau

Inspiriert von dem Gedicht "Lotova žena" von Anna Achmatova


Der Abend fällt. Er sagt: Wir müssen fort,

und sein Blick ist so unendlich ruhig und kühl.

Du erschauerst bei jedem ruhigen Wort,

das nichts weiß von dem großen Abschied, den du fühlst.

"Verderbt ist die Stadt und verrottet; voller Gier und von Sünde entstellt.

Sie wird stürzen, verfallen, verglühen. Heute Nacht wird von Gottes Zorn sie gefällt.

Doch mir ist bestimmt, der Gerechte zu sein,

der unversehrt und aufrecht bleibt.

Lasst uns geh'n mit den Engeln, wohin sie uns führ'n

und niemals zurückschau'n, mein Weib."

Ihm sind zwei Engel gegeben, zwei Engel und ein Gott voraus.

Du sahst niemals einen Engel, und du weißt: du bist in dieser Stadt zuhaus.

Also packst du die Dinge, die dir kostbar sind,

schöner Zierat voll von Sünde und von Gier,

und dann stößt du den Koffer fort und weinst wie ein Kind,

denn das wahrhaft Schöne trägst du tief in dir.

Du überquerst den Hof, der dich seit deiner Jugend kennt,

wo noch gestern deine Töchter froh gelacht,

folgst dem Mann, der sich so rätselhaft Gerechter Gottes nennt,

im Gepäck nur die Tränen, die niemand sieht,

bittrer und schwerer, je weiter du gehst in die Nacht.

Er wird von Engeln geleitet in ein Land, das Gott zum Heim euch bestimmt.

Du sahst niemals einen Engel, und dein Heim

ist, wo Erinnerungen sind.

Dann ist Wüste um dich, dunkle Weite,

nur weit hinten ein rötliches Glüh'n,

wilde Flammen, verzehrendes Wüten,

so weit fort und doch unmöglich zu flieh'n ….

Deine Töchter starren schweigend vor sich hin.

Du fragst dich, ob sie die fernen Schreie hör'n –

ob nun, da ihres Vaters Worte um sie sind,

sie noch ein bisschen von dem großen Abschied spür'n.

Du rufst nach ihnen. Leis verweht dein Flehen mit dem Wind,

und sie schreiten stumm voran mit festem Blick.

Und sicher zeugt von Größe es, wie unbeirrt sie sind.

Doch das wahrhaft Schöne blieb zurück.

Und du drehst dich um, dorthin, wo deine Heimat stand,

voll von Sünde und Größe und Stolz,

voll Erinn'rungen, tot und vergessen,

weil ein Gott sie nicht länger gewollt.

Spürst die ungeweinten Tränen um die Dinge, die du liebst,

eine Bitternis, die kostbar ist und schön,

füllst mit Salz und Sand und Asche dich, wirst schwerer und ergibst

dich dem Abschied, der unmöglich ist zu flieh'n.

Ihm sind zwei Engel gegeben und ein Heim, das ihn unsterblich macht.

Du sahst niemals einen Engel …

Crystal 04/2014

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