Stimmen im Wind

1.) Nur selten verirrt sich ein Wandrer hierher

in das Bergdorf am Rande des Schnees,

und sanft spiegeln Häuser, verfallen und leer,

die mattgrauen Fluten des Sees.

Lange verblasst schon sind Farben und Pracht,

auf den Straßen wächst Unkraut und Gras.

Der Nebel hat bleierne Stille gebracht,

dem Dorf, das der Himmel vergaß.

Kein Haus blieb vom Laufe der Zeit dort verschont

auch wenn sie nur langsam verrinnt.

Ich bin die Letzte, die weiter hier wohnt,

ich und die Stimmen im Wind.

2.) Einst herrschte Leben und Lachen am See

bis Nebel den Tiefen entsprang,

er brachte die Stimmen zum Weiler im Schnee,

den lockenden, leisen Gesang.

Ich weiß nicht den Grund, doch ich sehe nun klar

wie das Dorfe den Göttern entglitt.

Der Nebel - er kommt und geht einmal im Jahr,

und Einen von uns nimmt er mit.

Nur manchmal, wenn Wind von den Wassern her geht,

und der Abend ist ruhig und lind,

dann ahnt man, wohin unsre Seele verweht:

Sie singt mit den Stimmen im Wind.

3.) Jahre und Jahre verflossen wie Schnee

seit der Nebel den Ersten empfing.

Ich bin die Letzte der Menschen vom See,

die noch nicht zu den Stimmen ging.

Das Ende des Wartens erwarte ich hier,

in meiner Hütte aus Stein.

Die Stimmen der Freunde sind ständig bei mir,

und doch bin ich ewig allein.

Bald folge auch ich nach, von niemand beweint,

wenn der Nebel zu steigen beginnt,

dann singe ich endlich auf immer vereint

mit meinen Stimmen im Wind.

4.) Verirrst du dich einstens als Wandrer hierher

in das Bergdorf am Rande des Schnees,

dann spiegelt sich eine verlassene Welt

in den mattgrauen Fluten des Sees.

Es warten die Häuser, verfallen und leer,

sie stehen für Gäste bereit,

für weitere Sänger im Nebelmeer

im Dorfe am Rande der Zeit.

Und wunderst du dich dort im Weiler aus Stein,

wohin wir gegangen sind,

so horch in die Stille des Abends hinein:

Wir sind die Stimmen im Wind.

Eva 1995