Es geht eine Sage vom lebenden Spiel,
eine Mär, doch wer weiß es? vielleicht ist sie wahr,
und einer, die seiner Verführung verfiel
im heißesten Sommer, im trockensten Jahr.
* * *
Es lebte ein Mädchen im flämischen Land,
sechs Geschwister, neun Jahre, und meistens allein,
die im Zwielicht des Speichers ein Schächtelchen fand
voll schlichter Figuren aus farbigem Stein.
Eine Nuß ward zur Kirche, drei Löffel zum Wall,
ein Schälchen mit Wasser zum Weiher im Feld,
etwas Faden zum Pfad, eine Schindel zum Stall,
zehn Hölzchen zum Dorf und der Speicher zur Welt.
Die Puppen, sie waren die Männer und Frauen,
so, wie sie sie kannte, die Kinder, das Vieh,
achtzig Steine, die grünen, die gelben und grauen,
und der Letzte, ein kleiner, blassblauer, war sie.
Sie spielte das Leben, wie sie es sich wünschte,
nicht, wie es in Wirklichkeit war.
Der Lehrer ging angeln, anstatt sie zu lehren,
der Rohrstock zerbrach, im Gestrüpp wuchsen Beeren
und jeder trug Blumen im Haar.
Und droben, im Dach, schob ein Kind die Figuren
wie farbige Schemen im dämmrigen Licht.
Die Dörfler gehorchten, sie folgten den Spuren
der Steine im Staub und bemerkten es nicht.
Das Mädchen, es ahnte die Macht ihres Spieles
und was sie im Speicher erspielte, geschah.
Sie strafte, belohnte, es gelang, ihr gefiel es,
im heißesten Sommer, im trockensten Jahr.
* * *
Und Truus schöpfte Geld aus dem Brunnen vorm Haus,
der Muhme verreckte das Schwein.
Die Eltern versohlten Hubertus, den Petzer,
Louisa ward schwanger, und Brabo, der Schwätzer
brach sich beim Raufen ein Bein.
Sie spielte und spielte, vergaß ihre Pflichten.
Die Hitze hing schläfrig und schwer unterm Dach.
Sie lebte, sie träumte in bunten Geschichten.
Sie liebte das Spiel, und das Spiel wurde wach.
Sie sprach zu der Mutter: „Die Puppen, sie leben,
sie bewegen sich manchmal bei Nacht.
Sie tragen Gesichter der Brüder und Schwestern,
der Mägde, der Bauern, und gestern, grad gestern,
hat eine von ihnen gelacht.“
Doch die Mutter, sie schalt sie, der Vater, er schwieg,
und lautlos entbrannte im Speicher ein Krieg.
„Die Hitze ists!“ nickten die Bauern. Nicht einer
bemerkte den süßherben Duft der Gefahr.
Der Schatten fiel länger. Die Welt wurde kleiner,
im heißesten Sommer, im trockensten Jahr.
* * *
Und die Hitze ward größer. Der Sommer war lang.
Die Puppen regierten und hielten Gericht.
Ihr Sog wurde stärker. Dem Mädchen ward bang,
und sie betete reuig: „Das wollte ich nicht.“
Die Stimmung im Dorf wurde reizbar und laut.
Eine Herde entfloh bei der Schur.
Die Mäuse zerfraßen dem Müller das Korn,
ein Fieber griff um sich, und Els wuchs ein Horn,
der Pfaffe verschwand ohne Spur.
Kranke, Verletzte und schreckliche Schäden -
das Mädchen erschrak. Sie sprach nicht mehr viel.
Sie schlief nicht. Sie rang. Ihr entglitten die Fäden,
und tiefer und tiefer versank sie im Spiel.
Die Hitze, das Dorf - alles tanzte im Kreise
und sie in der Mitte, so weiß wie Papier.
Nur einmal, am Abend, da weinte sie leise:
„Mutter, die Puppen - sie spielen mit mir.“
Doch die Mutter, sie seufzte, der Vater, er schwieg,
und die bunten Figuren behielten den Sieg.
* * *
Im Morgengraun fand man den Körper im Teich.
Man legte sie sachte ins Gras.
Im Haar hingen Tropfen. Sie brachen das Licht.
Nur Müdigkeit lag auf dem blassen Gesicht
und ein Blick wie gesprungenes Glas.
Und die Mutter, sie weinte, der Vater, er schwieg,
auch, als er die Stufen zum Speicher erstieg.
Und Regen fällt prasselnd auf Schindeln und Wände,
im Zwielicht ein Spielzeug, zerbrechlich und klein.
Er greift nach der Schale. Ihm zittern die Hände.
Am Grunde liegt schimmernd ein blassblauer Stein.
Kein Alter ist, der die Geschichte verstände,
doch so wird sie erzählt und man sagt, sie sei wahr.
Der Regen, er brachte den Herbst und das Ende
vom heißesten Sommer im trockensten Jahr.
* * *
Das Spiel der Figuren verging binnen Stunden,
ward nie mehr gesehen im flämischen Land,
die Puppen vergessen, verloren, verschwunden,
bis einstmals in Mähren - ein Junge sie fand . . .
Eva, 24. Juli 2002
Für die Van Daele-Familie