Andrej

Andrej Bolkonski aus "Krieg und Frieden" gewidmet

1.) Der Tod war in ihm, ohne dass er’s wusste.

Er hatte seine Ehre und ein Weib,

das ihn nicht liebte und doch sagte: Bleib,

weil sie voll Furcht war vor dem, was kommen musste.

Er aber suchte Wege fort von hier,

fort von der Welt, wo Weiber lieben wollen,

fort von dem Frühling mit den übervollen

Herzen und Kehlen, ohne ein "Wofür?"


2.) Als sie verging, da blieb ihm Bitterkeit,

Schuld vor der Liebe, die er nie gespürt,

Schuld vor dem Wissen, dass ihn nichts berührt

und dass das Leben niemals verzeiht.

Und er schwor, wie die Eiche zu leben,

schwarz und düster, verweigernd das Frühlingsgrün.

Mögen andre dem Trug sich ergeben –

ich kenne das Leben. Für mich ist’s dahin.


3.) Er wusste nicht, dass Eichen manchmal grünen,

ganz unerwartet, überrascht und zart.

Dass sich, verzaubert von der Macht des Schönen,

nochmaliges Sehnen ihnen offenbart.

Er begann, an zweite Chancen zu glauben

und in ihren Augen die Sonne zu seh’n.

Nichts konnte ihm die Illusionen rauben,

es war zu schön – es war zu schön.


4.) Nicht, dass die Liebe aus ihm selber kam.

In ihm war Liebe nicht für dieses Kleine,

war viel zu groß und ganz für sich alleine,

und hielt nicht fest, als es zum Bersten kam.

Und noch einmal sah er sich betrogen,

losgerissen von Sonne und Welt.

Er strebte fortan nur noch nach oben,

allem enthoben, was Schmerzen enthält.


5.) Die andern sahen ihn voller Bedauern.

Sie hätten sich gewünscht, er wäre nah.

Doch nur, wo Liebe ist, ist Nähe da,

und wo sie fehlt, baut sich das Dasein Mauern.

Wie die Eiche, vom Blitze vernichtet,

jeder Tag schien ihm unnütz und schwer.

Er war längst in das Andre geflüchtet,

das sich verdichtet, mit jedem Tag mehr.


6.) Dann kam der Tod und riss die Mauer ein.

Es kam Erkennen, das ihn von allen schied.

Unmerklich, während man noch um ihn bemüht,

traf er die Wahl, entzog sich und ging heim.

Er verstand nun die mögliche Liebe,

unverwandt und für alle gleich groß,

die undenkbar erschien, wenn er bliebe

am Leben in Lüge. Da ließ er es los.

Crystal 26/02/2003